Selbstabschaffung libertärer Freiheit

Die libertäre Auffassung (im Sinne von ‚Liberal versus libertär‘) hat nicht nur das faktische Problem, dass Staaten empirisch gesehen mächtiger sind als private Sicherheitsdienste, die ansonsten selbst zu Quasistaaten würden (siehe ‚Warum gibt es Staaten, wenn der Markt stets überlegen ist?‘). Hinzu kommen normative Probleme, von denen die Einschränkung der individuellen Freiheit gerade durch die Freiheitskonzeption der Libertären wohl das gravierendste ist, da sie ihr Hauptziel nicht wirklich befördern, sondern verfehlen.

Es sind nicht alle Libertären für freiwillig begründete Sklaverei, obwohl das eigentlich konsequent wäre. Die individuelle Freiheit ist eingeschränkt, wenn sie nicht auch die Möglichkeit ihrer freiwilligen Abschaffung einschließt. Außerdem ist nicht zu sehen, wer nach libertärer Auffassung freiwillig begründete Sklaverei verhindern sollte. Wird sie zugelassen, kann aber die Freiheit völlig verloren gehen und durch Sklaverei ersetzt werden. Die (Möglichkeit zur) Aufgabe der Freiheit ist zwar selbst eine Form der Freiheit, danach herrscht jedoch maximale Unfreiheit.

Auch wenn viele Libertäre freiwillig eingegangene Sklaverei in der direkten Form ablehnen, führt ihre Auffassung von absoluten Eigentumsrechten dann doch zu einem vergleichbaren oder sogar noch schlimmerem Ergebnis, nämlich zu unfreiwilliger Versklavung, wenn auch vielleicht unter anderem Namen, oder sogar zum Tode. Denn selbst wenn niemand sich freiwillig versklaven darf, ist doch für Libertäre unstrittig, dass jemand all sein Eigentum wegtauschen oder auch verschenken darf. Dann hat er aber nichts mehr und ist von anderen abhängig, die dafür nach libertärer Auffassung beliebige Gegenleistungen verlangen oder die betreffende Person dem Hungertod überlassen dürfen. Selbst das aktive Töten von Besitzlosen ist für Libertäre vorstellbar, weil jeder absolute Verfügungsgewalt über seinen Grund und Boden besitzt und unberechtigt sich dort aufhaltende Personen töten darf. Zugleich ist alles einschließlich des Bodens in einer anarchokapitalistischen Welt privat verteilt, so dass es kein öffentliches Land gibt, auf welches sich Besitzlose zurückziehen könnten.

Dieses Schicksal droht aber nicht nur Besitzlosen, sondern jedem, der nicht riesige Ländereien angehäuft hat. Denn wer nur ein kleines Grundstück besitzt, ist auf das Wohlwollen seiner Nachbarn angewiesen, um dieses verlassen oder auch dorthin zurückkehren zu dürfen oder Lieferungen von außen empfangen zu können. Die Verabsolutierung des Eigentums, insbesondere von Land, führt tatsächlich zu massiven Freiheitsbeschränkungen. Der Markt wird es auch nicht richten, weil jeder beliebig hohen Wegezoll verlangen kann und deshalb viele das auch tun werden, so dass die Preise nicht effizient, sondern prohibitiv sind.

Vernünftige freie Menschen werden deshalb auf diese absoluten Rechte zumindest teilweise verzichten und z. B. gemeinsames Eigentum für Straßen begründen, selbst wenn diese dann mit moderaten Nutzungsgebühren bewirtschaftet werden sollten, oder für private Grundstücke (aber z. B. nicht Häuser) ein Durchgangsrecht vereinbaren. So oder so ist die absolute Freiheit der Libertären nicht stabil, sondern führt entweder zu Unfreiheit für viele oder zu kooperativen Lösungen, bei denen alle auf etwas Freiheit verzichten, um mehr davon zu gewinnen. Genau dazu dient der liberale Staat.

17 Gedanken zu „Selbstabschaffung libertärer Freiheit

  1. “ Dieses Schicksal droht aber nicht nur Besitzlosen, sondern jedem, der nicht riesige Ländereien angehäuft hat.“

    Ja so was ähnliches haben spanische anarchistische Landarbeiter von der CNT-FAI auch gehört.

    Übrigens eine konsequente Form von Liberalismus ist halt der Anarchismus. Anarchismus spielt ja überhaupt keine Rolle, auf dieser Welt mehr, Gott sei Dank.

    In Spanien und der Ukraine waren historisch gesehen die einzige Länder wo der Anarchismus teilweise am Drücker war. Die CNT-Gewerkschaft , die 2 Millionen Mitglieder hatten, haben stolz verkündet, wir haben nur einen bezahlten Mitarbeiter. Naja will gar nicht wissen wie viele bezahlte Hauptamtliche beim DGB oder ÖGB sind. Nur das Geld abzuschaffen, was die spanischen Anarchisten teilweise versucht haben wo die an der Macht waren, war Steinzeitliberalismus.
    Was ihnen auch das Genick gebrochen hat bei ihrer Massenbasis, die haben immer gern aufgetrumpft “ Geht nicht wählen. Madrid ohne Regierung“. Nanu im spanischen Bürgerkrieg waren plötzlich 4 Anarchisten Minister, die haben sich natürlich gerechtfertigt “ Was sollen wir denn auch sonst machen, wir beißen in die Essiggurke um den Faschisten -Putsch zu bekämpfen“ ( oder so ähnlich haben die es formuliert).
    Da wurde ein Bankräuber dieser Oliver zum Justizminister, nur die Kommunisten haben die dann fertig gemacht. Der Krieg im Bürgerkrieg.

    • Anarchismus ist mit Liberalismus als Staatsphilosophie unverträglich. Die Libertären sind das anarchistische Gegenstück zu den Liberalen, so wie auch Sozialismus und Konservatismus Staatsauffassungen sind, aber entsprechend eingestellte Anarchisten existieren. Die spanischen Anarchisten waren links, nicht libertär. Dass sie von den anfangs viel schwächeren Stalinisten übervorteilt wurden, ist wohl kein Zufall.

      • Ja die PCE hat die Anarchisten übervorteilt. Mit so einer Hetze was die PCE gemacht hat (na so ungefähr) “ Die Anarchisten wollen Frauen versklaven. Die wollen die freie Liebe“.
        Jetzt , wie hätte sich die CNT-FAI überhaupt wehren können. „Alles Lüge“ sagen, hätte nicht gereicht.

        Dann haben sich Teile der CNT erhoben mit der Waffe in der Hand in Barcelona gemeinsam mit der POUM . Das ging dann wie man als Schachspieler sagt Remis aus.

        Nur Remis waren es dann nicht, ein paar Wochen später, gab es Massenverhaftungen.

  2. Ihre Analyse ist, wie ich finde, wieder einmal zutreffend und sehr klug.

    Darf ich ergänzend hinzufügend: Für meine Begriffe besteht der Kern der Widersinnigkeit des Anarcho-Kapitalismus darin, dass er in seiner Ablehnung von Demokratie, Staat und Politik, eine Grundforderung des freiheitlichen Denkens missachtet: die Mögliichkeit der politischen Partizipation für alle.

    Die Einhaltung, die Möglichkeit der Entfaltung dieser Maxime macht die Freiheit überhaupt erst möglich, zugleich verwandelt sie die Freiheit in ein offenes System, das sich eben nicht auf diese oder jene Ideologie reduzieren lässt.

    Der Anarcho-Kapialismus beginnt (wie Sie zeigen) und endet (worauf ich hinzuweisen hoffe) mit der Ablehnung der Freiheit; übrigens auch darin, dass er eine verquere Formel für einen neuen Feudalismus und, wegen seiner Betonung des Anmarchismus, ein Rezept für bürgerkriegsähnliche Verhältnisse ist, die sich bestenfalls wieder zu einer staatlich verfassten Ordnung hinentwickeln werden.

    Freiheit bedeutet: Friede, Produktivität und ein hohes Maß an persönlicher Autonomie, und zwar ein solches Maß davon, das die Möglichkeit der politischen Partizipation aller Bürger gestattet.

    All diese Kenzeichen der Freiheit lehnt der AK ab oder er verhindert die Bedingungen ihrer Erfüllung.

    Im Grunde ist der AK eine reaktionäre (in schädlicherweise rückwärtsgerichtete) Denkhaltung, die vor allem den intellektuellen Stolz, auf einem geschlossenen intellektuellen System zu beruhen, anspricht. Dieser intellektuelle Ehrgeiz ist altmodisch. Gegenüber der Anwendung starrer dogmatischer Systeme erhöht sich die Qualität unseres Wissens enorm durch Pluralismus und (Zulassung der Ressource) Fehlbarkeit, also durch fortlaufende Ergebnis-Offenheit. Somit steht der AK auch epistemologisch im Widerspruch zu den Forderungen der Freiheit.

    Siehe auch hier, besonders zum Thema „absolute Rechte“: http://redstateeclectic.typepad.com/redstate_commentary/2013/07/fundamental-errors-of-anarchism-1-of-2.html

    • Über das Verhältnis von Demokratie und Liberalismus will ich ein anderes Mal schreiben. Beide sind nicht notwendig verknüpft, ergänzen sich aber.

      Die meisten Libertären streben in der Tat ein geschlossenes Weltbild an. Politisch ist das gefährlich und intellektuell scheitert es auch, wie der von Ihnen verlinkte Beitrag und ich auf verschiedene Weise zu zeigen versuchen.

      Interessant finde ich Ihre Feststellung, dass der Anarchokapitalismus in sich reaktionär sei. Das würde erklären, warum insbesondere in Deutschland viele Libertäre ganz offen reaktionär sind oder werden und sich in vielen Fragen offen gegen die individuelle Freiheit aussprechen, um die es ihnen doch angeblich einzig geht.

  3. Libertär ist ein weites Feld, Ihre Variante ist nur ein Teil. Und über die Freiwilligkeit mit dem man sich Staaten anschließt, ist es nicht weit her. Es ist Ihr gutes Recht zu meinen, das sei alles gut und richtig so. Fakt ist Staaten sind die größten Mörder speziell auch an der eigenen Bevölkerung.
    Rußland insgesamt irgendwo um 40 Mio Tote siehe unter anderem https://de.wikipedia.org/wiki/Stalinsche_S%C3%A4uberungen
    China auch genauso schlimm.

    Morde durch die Weltkriege auch noch mal mindestens 60 Mio. Beindruckende Zahlen, aber das sind wohl nach Ihrem Gefühlt Kollateralschäden, den die Vorteile überwiegen ja Ihrer Meinung nach. Wo möchten Sie da bitte die Grenze ziehen. Ein paar Mrd Tote vielleicht?

    Erläutern Sie uns doch einfach mal den Nutzen der hochtechnisiereten Kriege und der maschinellen Morderei in den Weltkriegen. Wer hat den ganzen Kram angefangen? Irgendwelche Herrschende – komisch? oder zu erwarten?

    Wieviele Morde gehen auf die Kappe von Anarchisten? Na? Wieviele Morde auf die Kappe von Libertären? Na?

    • Es ging hier doch gar nicht um die Vor- und Nachteile von Staaten. Selbst wenn Anarchismus an sich besser wäre, ist er instabil und führt deshalb dazu, dass sich eher besonders üble Mächte gewaltsam durchsetzen.

    • Was mir spontan hierzu einfällt ist dies: zum einen ist es nichts ungewöhnliches, dass evolutionäre Produkte, so auch Sozialtechnologien wie der Staat, nur bestimmte Funktionen perfekt abdecken, in anderer Hinsicht unbefriedigend oder ambivalent sind – wie übrigens meine Nase.

      Die Frage ist nicht ob Anarchie oder Staat besser sind, die scheint mir geklärt, die Frage ist, ob und wie sich Kriege und andere Gewaltexzesse vermeiden lassen. Und da scheint mir der moderne liberale Staat einen sehr vernünftigen Lösungsansatz bereitzuhalten. Steven Pinker weist eindrucksvoll nach, dass der moderne Staat eine unverzichtbare Rolle in der enormen Reduktion von Gewalt im menschlichen Leben bewirkt.

      • Es gibt keine liberalen Terroristen und liberale Staaten haben keine Verbrecherregime. Das ist allerdings kein perfekter Schutz, weil liberale Staaten gekippt werden können wie z. B. die Weimarer Republik.

      • Wenn das Anliegen, das uns umtreibt, die Frage ist, wie man Gewaltexzesse vermeiden kann, so ist der Anarcho-Kapitalismus besonders ungeeignet, uns weiter zu bringen. Denn der Anarchismus ist eine Sackgasse der sozialen Evolution, er ist (als stets aufzufüllendes Machtvakuum) nicht entwicklungsfähig im Sinne dauerhafter Bestandsfähigkeit, sondern wird nach den bedauerlichen Phasen seiner vorübergehenden Präsenz unweigerlich von leistungsfähigeren (aber deswegen nicht unbedingt moralisch unproblematischen) Formen des Miteinanders abgelöst.

        Das ist historisch-empirisch so, und es gibt gute theoretische Gründe, die fehlende Lebensfähigkeit des Anarchismus zu erklären. Mit anderen Worten: wem es um Gewaltvermeidung zu tun ist, der muss sich bei seinen Bemühungen in anderen und für andere Gesellschaftsmodelle engagieren.

      • Den mir bekannten Anarchokapitalisten geht es überhaupt nicht um Gewaltfreiheit, sondern allein um das Ende des staatlichen Gewaltmonopols, also letztlich um einen Gewaltwettbewerb, bei dem sich jeder maximal bewaffnen soll.

      • Herr Prof. Dilger, ich schließe mich Ihrer Meinung in allen Punkten an, gerade auch was das anarcho-kapitalistische Desinteresse an Gewaltfreiheit betrifft.

  4. Herr Prof.Dilger, da ich wenig Zeit habe, will ich hier einen zusammenfassenden Kommentar zum Thema „Libertarismus“ geben:

    Ich stimme Ihnen im Wesentlichen zu. Die Privatisierung der staatlichen Funktionen, speziell bei innerer und äußerer Sicherheit, führt nur zur Herrschaft der Konzerne und Oligarchen, also zu einem Status, der sich vom aktuellen eigentlich wenig unterscheidet, wobei nur noch größere Unterschiede zwischen den Rechten der Reichen und Armen als heute eintreten werden. Einige libertäre Ansätze halte ich trotzdem für bedenkenswert.

  5. Der ukrainische Anarchisten-Anführer Nestor Machno, soll in Paris an Leberzirrhose gestorben sein. Ach was für ein schöner und charmanter Tod.

    Die hatten ja sowieso keine Chance, in der Ukraine die Anarchie ausrufen, auch wenn die angeblich 1/3 des Landes unter Kontrolle hatten, wurde halt vom Kommunismus niedergeschlagen.

  6. Nur zu einem Detail: „freiwillig begründete Sklaverei“ kann es nicht geben, da der Begriff einen Widerspruch impliziert. Zum wesentlichen Kennzeichen des Begriffs Sklaverei gehört gerade die Unfreiwilligkeit. Wer sich freiwillig zur unentgeltlichen Arbeit verpflichtet, ist kein Sklave, und das gilt in jedem Fall.

  7. Pingback: Warum kippen gerade Libertäre oft nach rechts? | Alexander Dilger

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