Mein Kollege Ulrich van Suntum hat eine Initiative gestartet: Die „Soziale Marktwirtschaft soll ins Grundgesetz“. Der Text liegt mir vor, auch wenn ich ihn noch nicht offen im Internet gefunden habe. Konkret geht es um eine Neufassung von Artikel 15 Grundgesetz, der noch nie angewandt wurde, es aber momentan erlauben würde, „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ gegen Entschädigung zu vergesellschaften. Er soll neu lauten:
Bund, Länder und Kommunen sind in ihren wirtschaftspolitisch relevanten Entscheidungen und Maßnahmen grundsätzlich den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet.
Ich habe überlegt, ob ich den entsprechenden Aufruf unterzeichnen soll und mich dann aus zwei Gründen dagegen entschieden, obwohl ich die Grundintention teile. Entgegen Rainer Hank von der FAZ (siehe „Wer schützt die Marktwirtschaft?“) halte ich es nicht für „autoritär“, liberale Prinzipien ins Grundgesetz zu schreiben. Allerdings wird in dem vorgeschlagenen Artikel auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nur verwiesen. Sie werden nicht benannt und bleiben damit der willkürlichen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts überlassen. Politische Fragen sollten jedoch in einer Demokratie von gewählten Volksvertretern oder durch Volksentscheide entschieden werden und nicht von politischen Richtern. Zumindest ein Teil dieser Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft findet sich auch schon in den vorhandenen Grundgesetzartikeln, wenngleich die Marktwirtschaft selbst explizit nicht vorkommt.
Mein zweiter Grund, den Aufruf nicht zu unterzeichnen, ist der positive Bezug auf die EU und die Verträge von Maastricht (der uns den weder sozialen noch marktwirtschaftlichen Euro bescherte) und Lissabon. Letzterer benennt die „soziale Marktwirtschaft“ als Grundlage und Ziel. Aber was nützt das? Wenn es was nützt, hat es übrigens in Deutschland bereits eine rechtlich bindende Wirkung. Der ‚Jusos-Chef möchte Autobauer und Hausbesitzer enteignen‘ gegen die Werte der EU, die seiner Partei doch angeblich so wichtig sind.
Als das das Grundgesetz verkündete wurde, gab es die Soziale Marktwirtschaft
noch gar nicht. Sozialistische Phantasien waren nach dem Krieg sehr populär, als Überbleibsel der National-Sozialisten und durch die Förderung von Kommunisten durch die Alliierten. Das damalige Aahlener Programm der CDU trägt eindeutig diese sozialistischen Züge!
Dass Deutsch die offizielle Sprache der neuen Bundesrepublik Deutschland ist, war so selbstverständlich, dass es nicht im Grundgesetz erwähnt wurde. Auch in der amerikanischen Verfassung steht nicht, dass Englisch die offizielle Sprache der USA ist. Aber in den Verfassungen einzelner Bundesstaaten gibt es Bestimmungen darüber. In Kalifornien, Texas und Florida sagt die Verfassung sogar, dass Spanisch neben Englisch gleichberechtigt ist.
In den letzten Tagen waren vor allem in öffentlich-rechtlichen Radioprogrammen immer wieder politische Kommentare aber auch kabarettistische bzw. Satire-Beiträge zu hören, denen zu entnehmen war, dass Kevin Kühnerts Forderung nach „Demokratischem Sozialismus“ ohnehin eine zentrale Forderung des Grundsatzprogramms der SPD sei. Nun kenne ich das Grundsatzprogramm der für mich persönlich schon immer unwählbaren Genossen nicht, aber wenn es so ist, dann ist Kühnert wohl tatsächlich nur die Vorhut.
Die Forderung nach „sozialer Marktwirtschaft“ ins Grundgesetz aufzunehmen, halte ich für völligen Humbug. Zum einen aus den beiden von Ihnen treffend beschriebenen Gründen, zum anderen aber auch, weil die „soziale Marktwirtschaft“ heute längst nicht mehr als das ausgelegt wird, was Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard darunter verstanden haben dürften, sondern im ausgeuferten Umverteilungsfeudalismus längst zum Aufruf zu sozialistischer Planwirtschaft und immer mehr Enteignung und Bevormundung der letzten verbliebenen Leistungsträger umgedeutet wird.
Im Grunde ist das noch einmal mein erster Grund. Wenn die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft irgendeine Bedeutung haben sollen, wären z. B. ein flächendeckender Mindestlohn, eine Mietpreisbremse, Geschlechterquoten und willkürliche Fahrverbote damit unvereinbar. Die Merkel-Regierung hat das aber alles beschlossen und plant jetzt eine aktive Industriepolitik wie in China. Wenn das alles unter Soziale Marktwirtschaft fällt, ist der Begriff leer, oder wie Herr Hank leider richtig erkennt:
Sag ich doch. Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ ist heute in den Köpfen der Menschen Rechtfertigung und Synonym für Sozialistische Planwirtschaft.
Wo genau findet sich der Hinweis auf soziale Marktwirtschaft in den EU Werten?
Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 EU-Vertrag lautet: „Sie [die EU] wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.“
Roland Vaubel hat in der FAZ vom 3.5.2019 in einem beachtenswerten Artikel unter „Frankreich als Problem für Europa“ beschrieben, wie sich Europa unter dem Einfluss Frankreichs tendenziell von der Marktwirtschaft immer mehr zu einer Staatswirtschaft wandelt und dies auch vom EuGH mitgetragen wird. In Deutschland wird dies vom derzeitigen Wirtschaftsminister (CDU) repräsentiert, wie man überhaupt feststellen muss, dass sich Deutschland der Entfernung von den Verträgen von Maastricht und Lissabon nicht widersetzt hat. Viele Beschäftigte im Erziehungssystem wie z.B. auch in der Finanzverwaltung neigen staatswirtschaftlichen Ideen ebenfalls zu und prägen in der Erziehung wirtschaftsferne bis wirtschaftsfeindliche Haltungen. Aus diesem Grunde macht der Vorschlag von van Suntum m.E. Sinn. Die Gefahr besteht in zunehmender Staatswirtschaft, zu der z.B. auch die SPD traditionell neigt.
Soziale Marktwirtschaft wird dann doch einfach in Staatswirtschaft oder sozialistische Marktwirtschaft uminterpretiert. Um zumindest ein Zeichen zu setzen, müssten konkrete Prinzipien benannt werden, z. B. Vertragsfreiheit (momentan aus Artikel 2 GG hergeleitet) oder Wettbewerb. Die Grundfreiheiten der EU sind eigentlich auch nicht so schlecht, werden aber gerade als Einfallstor für mehr Zentralisierung und Regulierung missbraucht.
Gerade aus diesem Grunde neige ich zu dem Vorschlag des Prof. van Suntum. Unsere Verfassung bietet offensichtlich eine zu schwache Grundlage, sich dem Zentralismus in der EU zu widersetzen. Wenn schon unsere Fundamente wackeln, können wir unsere Vorstellungen in Europa auch nicht durchsetzen. Einer Präzisierung dieses Vorschlages steht nichts im Wege. Dazu lädt auch Ihr Post von 10:16 Uhr ein. Die mittelständische Wirtschaft macht Front gegen die von Altmaier repräsentierte Politik. Eine grundsätzliche Ablehnung der Initiative ist für unsere wirtschaftliche Entwicklung nicht hilfreich.
Es geht hier nicht um eine grundsätzliche Ablehnung. Natürlich ist der Vorschlag besser als der gegenwärtige Artikel 15 GG. Doch man sollte sich nicht zu viel davon versprechen. Gerade wenn er die nötigen Mehrheiten zur Grundgesetzänderung fände (was nicht passieren wird), wäre er völlig zahnlos. Wer baut denn gerade die Soziale Marktwirtschaft ab?
Alexander Dilger
sagte am 06/05/2019 um 12:40 :“. . .Gerade wenn er die nötigen Mehrheiten zur Grundgesetzänderung fände (was nicht passieren wird), wäre er völlig zahnlos. Wer baut denn gerade die Soziale Marktwirtschaft ab? . . .“
Ich bin hierzu völlig Ihrer Meinung. Nur ist eben die Frage, ob sich die bürgerlichen zersplitterten Gruppierungen schon im Vorfeld mit Bedenken gegenseitig blockieren dürfen. Das macht doch das gegenwärtige Drama in der Politik aus.: Die Irrationalen allein sind kampagnenfähig.
Es ist doch normal, dass über kleinere bis mittlere Differenzen am meisten diskutiert wird. Wenn es keine Differenzen gibt, braucht man nicht zu diskutieren. Wenn hingegen die Differenzen zu groß sind, fehlt häufig die Diskussionsgrundlage.
In der politischen Umsetzung muss man hingegen Kompromisse eingehen. Häufig ist das kleinere Übel die bessere Wahl, aber auch nicht immer. Um Frau Merkel loszuwerden, hätte ich z. B. einmalig selbst Rot-Rot-Grün bevorzugt.
„Soziale Marktwirtschaft“ kann ja sehr vieles bedeuten und jeder anders definieren.
“ Die Neue Ökonomische Politik war ein wirtschaftspolitisches Konzept in der Sowjetunion, das Lenin und Trotzki 1921 gegen erheblichen Widerstand in der eigenen Partei durchsetzten. Ihr Hauptmerkmal war eine Dezentralisierung und Liberalisierung in der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie, die der Wirtschaft teilweise auch marktwirtschaftliche Methoden zugestand. …“
https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_%C3%96konomische_Politik
War halt auch eine Form der sozialen Marktwirtschaft.
Nicht wirklich. Zumindest theoretisch ist eine sozialistische Marktwirtschaft vorstellbar, Jugoslawien hatte eine genossenschaftliche Variante. Theoretisch wie empirisch funktionierte diese übrigens besser als der Staatssozialismus mit zentraler Planung, aber schlechter als unsere soziale Marktwirtschaft mit Privatunternehmen.
Das ist ein Missverständnis. Sowohl die NÖP wie das 1963 in der DDR beschlossene Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) hatten als Ziel die Verfeinerung der Planungswerkzeuge, eine Schwerpunktsetzung in der Wirtschaftsstruktur und Rentabilitätsverbesserung im Vergleich mit internationalen (westdeutschen) Kennziffern -also weg von der sog. „Tonnen-Ideologie“ und Ressourcen-Verschwendung. Die Preissetzung als Verrechnungsbasis zwischen den Betrieben unterlag ebenfalls diesem Vergleichskriterium. Die nachfrageorientierte Güterversorgung der Bevölkerung spielte nur insofern eine Rolle, als unter dem Einfluss Ulbrichts freie Kapazitäten der Betriebe (unter Preisgenehmigung) hierfür eingesetzt werden durften. Honecker versuchte dann 1971, den Gegensatz zwischen strategischen Planzielen und bedarfsorientierter Güterversorgung durch die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zu beseitigen, wobei Lohn-Anhebungen aber nicht die entsprechende Güterbereitstellung begleitete.
Da ist nicht das geringste Anzeichen einer sozialen Marktwirtschaft erkennbar.
Anfangs in der Sowjetunion wurden tatsächlich ein wenig Privatinitiative und -eigentum sowie Handel erlaubt, weil die angestrebte vollständige Kollektivierung zu katastrophale Folgen hatte.
Wie es aussieht, scheinen die Freunde der Planwirtschaft in der CDU, allen voran Peter Altmeier mit seiner „Industriepolitik“ davon aber noch nie etwas gehört zu haben. Zum Glück hat der BDI mit Dieter Kempf einen klugen Kopf an seiner Spitze, der den Möchtegern-Kompetenzbolzen von der Saar locker an die Wand spielt.
In den „sozialistischen“ Ländern gab es Nischen für privates Unternehmertum. Dumm dran waren in der DDR die privaten Handwerker, denen Erträgnisse bis zu 86 % weggesteuert wurden (sofern sie nicht im Tauschhandel inoffiziell tätig sein konnten). Und noch größeres Unglück hatten sie nach der Wiedervereinigung, weil die Finanzverwaltung in den ersten Jahren in der DDR bestandskräftig gewordene derartige Steuerbescheide zu vollstrecken versuchte. Dagegen gab es Fälle von Personen, die z.B. landwirtschaftliches Restvermögen -also Besitz, den die LPGen nicht übernehmen wollten – zu einer unvorstellbaren Vermögensmehrung nutzen konnten. Antiquitätenhändler wurden nach einer Zeit wirtschaftlichen Erfolgs von den Hilfstruppen des Herrn Schalck-Golodkowski schlicht beraubt.
Es hing vom Land und auch von der Zeit ab. Die DDR war nie so schlimm wie andere sozialistische Länder und wirtschaftlich erfolgreicher.
Es wäre interessant, den Zusammenhang näher zu untersuchen. Vielleicht hat der Markt selbst einen abnehmenden Grenznutzen, d. h. die ersten Nischen bringen am meisten und beim libertären Ideal ist er negativ (weil auch umgekehrt der Staat einen abnehmenden Grenznutzen hat).
„Dumm dran waren in der DDR die privaten Handwerker, denen Erträgnisse bis zu 86 % weggesteuert wurden (sofern sie nicht im Tauschhandel inoffiziell tätig sein konnten).“
Ähm, was ist daran heute in Deutschland anders?
Rechnen Sie doch mal alle Steuern und Abgaben zusammen …
Wir leben in der real existierenden DDR 2.0 XXL – warum will das kaum jemand wahr haben?
Die Inflation von „Staatszielen“ und allgemeinen Prinzipien jenseits von Demokratie und Rechtsstaat im Grundgesetz ist eine fragwürdige Entwicklung der letzten 25 Jahre. Diese Normen haben wenig rechtliche Auswirkungen, schaffen aber falsche Erwartungen und Ansprüche. Je mehr davon es gibt, desto eher kann man sie gegeneinander ausspielen. Von auslegungsfreudigen Richtern könnten sie sogar gebraucht werden, um Grundrechte einzuschränken.
Die Verfassung ist kein überparteiliches Parteiprogramm, das von der Politik nur noch zu vollstrecken wäre, sondern nur ein minimaler Rahmen für staatliches Handeln und demokratische Entscheidungen. Die Forderung nach immer mehr Staatszielen ist letztlich latent autoritär.
In dieser allgemeinen Sicht scheint mir das Anliegen der Prof. van Suntum, Sinn u.a. nicht getroffen zu sein. Zu berücksichtigen ist u.a., dass die EU bzw. der EuGH Entscheidungen treffen, die unser GG berühren und ferner die gesellschaftliche Entwicklung seit Kodifizierung des GG eine Status-Klärung hinsichtlich Art. 15 GG sinnvoll macht. Wie der von mir zitierte Roland Vaubel darlegt, ist die Rechtsprechung des EuGH nicht am Wortlaut der Verträge von Maastricht und Lissabon sondern an politischen Zielvorstellungen orientiert, denen man nur mit eindeutigem Status begegnen kann.